Matthäuspassion
Barrabam!
Passion 2018 in der Wohltorfer Heilig-Geist-Kirche
Am 1. Sonntag der Passionszeit 2018, Invokativ, 18. Februar, bringt Andrea Wiese, Kirchenmusikdirektorin der Heilig-Geist-Kirche Wohltorf, Johann Sebastian Bach’s Matthäuspassion zur Aufführung. Full house. Sämtliche Chöre der Kirchengemeinde, insgesamt an die 100 Sänger, sind im Einsatz. Die jungen in Grau, die älteren in Schwarz; 5 Solisten (Olivia Stahn, Sopran, Nicole Pieper, Alt, Tim Karweick Tenor, Julian Redin, Bass, Konstantin Heintel, Jesusworte); Das Wohltorfer Kammerorchester mit klangvoller Unterstützung von weiteren 10 Solisten. Ganz grosses Kino in der kleinen evangelisch-lutherischen Kirche vor den Toren Hamburgs, am Rande des Sachsenwaldes. Zeitgleich gibt es die Saint Matthew Passion des Bach Choir in der Londoner Royal Festival Hall; am Sonntag, 25.03., erklingt Bach’s persönliches Glaubensbekenntnis in der Hamburger Michaelis Kirche, dem Michel. In der Hamburger Staatsoper dann, 2.4., das „Zeugnis von menschlicher Leidens- und Lebenserfahrung“ als John-Neumeier-Ballett. Die Kopenhagener Holmens Kirche (Kammerchor Camerata) bringt Bach’s Passion Christi am Karfreitag, 6.4., in deutscher Sprache. Leipzig, Thomas Kirche mit Thomaner Chor und Gewandhaus Orchester, das Bach’sche historische Umfeld, war schon am 30.3. dran. Dies zur (absolut wertenden) Einordnung des 2018er Wohltorfer Werkblocks „Matthäuspassion“.
Warum jetzt, 11 Jahre nach der ersten Aufführung unter Andrea Wieses Leitung, wieder dieses riesige Meisterwerk des musikalischen Giganten des Barock? „Weil die Besetzung der Kantorei es zuließ, ebenso die Finanzen.“ Sagt sie. „Und weil 10 Jahre ohne Matthäuspassion eigentlich schon viel zu lange ist.“ Und fügt hinzu: „Bach ist für mich Urgestein und Gipfel aller Kirchenmusik. Ich bin durch die regelmäßigen Aufführungen meines Vaters an der Celler Stadtkirche mit seiner Musik aufgewachsen. Deren Schönheit und Tiefe ist unfassbar.“ Staunende, offene Münder, Ergriffenheit, beseelte Ruhe – eine besondere Atmosphäre in der Kirche nach den gut 2,5 Stunden Bach’scher Klänge als volle Bestätigung dieser Einschätzung. „Alle Solisten und die Chöre hätten erfolgreich in der Elbphilharmonie auftreten können“, wußte die lokale Presse die Einschätzung von Konzertbesuchern wiederzugeben.
Und so fing es an: Karfreitag, 11. April, 1727. Deutschland, zergliedert in Hunderte kleiner Feudalstaaten, ist immer noch dabei, die Risse, die der Dreißigjährige Krieg geschlagen hat, zu heilen. In der Thomas Kirche, Leipzig, bringt ihr Kantor, Johann Sebastian Bach (44), Spross einer Musiker-Dynastie wie die Purcells in England, den Scarlattis in Italien oder den Couperins in Frankreich, in 2. Ehe verheiratet mit Anna Magdalena Wilcke, Hofsängerin zu Weissenfels und Köthen, seine Matthäuspassion zur Aufführung. Er, der angestellte Musiker, trägt die Livree des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen. Seine Manuskripte leitet er ein mit „J.J.“ (Jesu juva) und beendet sie mit „S.D.G.“ (Soli Deo Gloria). Den Text für die Passionsmusik 1727 verfasst er gemeinsam mit seinem Librettisten Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Die Worte des Evangelisten Matthäus vermerkt Bach mit roter Tinte in der Partitur. Der Karfreitagsgottesdienst dauerte insgesamt über vier Stunden, drei davon sind Bach’s Musik, keine Pause: Eine Zumutung für und Herausforderung an die Zuhörer, was (seelische) Wachheit, Aufnahmefähigkeit und -Bereitschaft anbelangt. Die Resonanz: verständnislos, ablehnend, kühl. Alles viel zu langatmig, allzu grosse Opernhaftigkeit. Es gibt keine weitere Aufführung zu Bach’s Lebenszeit. Hundertundzwei Jahre später bringt der junge Hamburger Musiker, Komponist und Kantor Felix Mendelssohn-Bartholdy Bach’s Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik, gekürzt auf 150 Minuten, zurück in die musikalische Welt, was 1829 eine wahre Bach-Renaissance einleitet.
Nimmt Andrea Wiese Bach heute rein musikalisch? Oder sieht sie ihn, seine Musik und seine Rezeption auch im historischen Kontext? Bach's Haltung gegenüber den Juden in seiner Zeit, z.B. Spielt so etwas in ihrem musikalischen Umgang mit einem Komponisten eine Rolle? „Ich verstehe seine Auffassung aus seiner Zeit heraus. Und deute sie aus meinem Verständnis, für die heutige Zeit. Text und Musik sind eng verknüpft, die Musik lebt ja auch aus dem Sinn der Worte, die Musik belebt die Worte.“
Auf die historischen Instrumente, wie z.B. Gambe, wurde bei der Wohltorfer Aufführung verzichtet. Kostenfrage? Individuelle Auswahl der Ablaufs? Dazu die Dirigentin: „Es gibt nur wenige Stücke mit Gambe. Da das Orchester auf modernen Instrumenten gespielt hat und eine Gambe extra hätte engagiert werden müssen, war es sinnvoll, an diesen Stellen zu kürzen. So kamen wir auf die Spielzeit von 2,5 Stunden. Die Kosten spielen in einer Kirchengemeinde wie der unseren, darüber hinaus, immer auch eine Rolle.“ Die Proben zur ersten Matthäuspassion-Aufführung müssen, wie es die Berichte hergeben, grauenhaft für alle Beteiligten gewesen sein. Bach „maltraitierte“. „Grade in der Endphase, nach gut einem Jahr intensiver Proben, dürfte z.B. der Kantorei der Begriff "malträtieren" nicht fremd gewesen sein“, gibt die Leiterin ihre Einschätzung. „Die Probenzeit mit dem Orchester ist leider immer, und bei einem so großen Werk besonders, erschreckend kurz.“
Der Bass, Julian Redin, wirkte bei der Wohltorfer Aufführung so explicit theatralisch. Kam das von ihm selbst oder wird das vorgegeben? „Nein“, so Andrea Wiese, „das kommt von den Sängern selbst. Solisten, ob instrumental oder vokal, haben zudem grundsätzlich eine große Gestaltungsfreiheit. Änderungen oder individuelle Interpretationen sind nur im Konsens sinnvoll“, weiss sie aus Erfahrung. Und weiter: „Rundum war es eine so große Leistung! Alle waren höchst konzentriert und konnten die gute Vorbereitung umsetzen. Der Kontakt, die Einheit Chor-Dirigentin war perfekt. Die Turbae-Chöre waren technisch gut und dramatisch, die Choräle innig und persönlich. Gute Sprache. Die Mischung des Chores aus Erwachsenen und Jugendlichen, die ganz selbstverständlich und ohne Vorbehalte zusammen musizieren, ist hier bei uns besonders“, so Wiese weiter. „Und die Kurrende-Kinder haben wirklich Gas gegeben! Es war ihr erstes großes Konzert! Und überhaupt: Die Kantorei fährt einen enormen, persönlichen, ehrenamtlichen Einsatz!!!“
Am 2. Sonntag der 2018er Passionszeit schafften die Wohltorfer 1. Hockey-Damen in der Halle des örtlichen Tontauben Clubs den Aufstieg in die zweithöchste Spielklasse. Die Halle tobte. Viele der Matthäus-Passion-Begeisterten des Vor-Sonntags klatschten sich die Hände wund. Auch das ist Wohltorf. Kirchenmusikalisches Hartholz trifft auf sportlichen Einsatz mit Torwartkelle. Johann Sebastian Bach, Jahrhundert- (wenn nicht Jahrtausend-)Musiker und Vater von 20 Kindern (aus 2 Ehen, 10 Bach-Kinder erreichten das Erwachsenen-Alter), hätte es gefallen.
MSD