Kammerton W - 3. Teil

Kammerton W - 3. Teil

Die Kurrende

Die Zeit geht ins Land, die Kinder werden älter. Es ist schön für mich, sie dabei als ihre Chorleiterin zu begleiten. Mit dem Wechsel in die weiterführenden Schulen endet auch ihre Zeit in der „Kinderkantorei“: Aufstieg in die „Kurrende“… komischer Name…egal… neuer Chorpulli, grau statt rot.

In der „Kurrende“ singen die Jugendlichen der 5. und 6. Klassen. Den Begriff gibt es seit der Reformationszeit, in der protestantische Schulchöre von Haus zu Haus zogen (lat. currere = umherlaufen), dort ein Ständchen gaben und so den Lebensunterhalt für begabte, aber finanziell arme Schüler ersangen. In meiner Heimat Celle gibt es eine ähnliche Tradition, allerdings mit meist zweifelhaftem Hörgenuss für die Beschäftigten der Geschäfte in der Innenstadt, die die Darbietung der umher laufenden Kindergruppen mit Süßigkeiten entlohnen: Das „Mattenherrn-Singen“ am 10. November. Im Kern geht auch diese Form des „Martinssingens“ auf Martin Luther zurück, der selbst ein Kurrendesänger war! So kann man auf der einschlägigen Internetseite dies Luther-Zitat nachlesen: „Verzagt nicht, ihr guten Gesellen, da ihr jetzt in die Kurrende geht; manchen unter euch ist ein Glück beschert, daran ihr jetzt nicht gedenket, allein seid fromm und fleißig“. Das dürfte den Wohltorfer Jugendlichen heutzutage recht fremd vorkommen. Schon eher unterschreiben würden sie vermutlich die sachliche lexikalische Definition: „Freiwilliger Jugendchor der evangelischen Kirche“.

Lässig schlendern die Jungen und Mädchen der Kurrende in den Probenraum. Donnerstags am frühen Abend, ich habe dann schon 2-3 Chorproben hinter mir. Auch die Jugendlichen sind etwas müde. Ein anstrengender Schultag, Sport, Hausaufgaben… all das liegt hinter ihnen, manchmal auch noch vor ihnen. Da fällt der „Chorsängersitz“, den ich von allen beim Einsingen fordere, schon schwer. Also gut, los geht’s… und siehe da: Nach einiger Zeit weicht die Müdigkeit bei Chor und Chorleiterin. Das Singen erfrischt, die Gemeinschaft mit gleichgesinnten Freuden tut gut.

Überhaupt: Freunde sind gerade in der Kurrende wichtig, vielleicht sogar das Wichtigste an allem. Das Team zählt, gemeinsam ist man stark. Joshua (11): „Ich finde es toll, gemeinsam zu singen, es macht Spaß und hinterher habe ich immer gute Laune. Wir hatten unsere Chorproben, während wir in der Kinderkantorei waren, als Jungsgruppe zusammen mit meinen Freunden. Wir haben Frau Wiese bestimmt viel Spaß gemacht :)“. Musikalisch wächst die Qualität, und mein Anspruch an dieselbe. Vielleicht zuweilen stärker als der der Jugendlichen. War das Motto in der Kika noch „Nie überfordern“, heißt es jetzt „Nie unterfordern“. Denn letztlich möchte doch (fast) jeder vorankommen, besser werden, Ziele erreichen. Und das machen wir in der Kurrende. Fragt man die Jugendlichen nach besonderen Chorerlebnissen, werden oft die groß besetzten und ausgiebig vorbereiteten Konzerte genannt. Camilla (12) erinnert sich noch gerne an ihren ersten Auftritt beim Grundschulprojekt „Singen! Klasse!“. Gemeinsam mit 120 Kindern sang sie auf dem siebenreihigen Chorpodest der Kantorei in unserer Kirche. Auch Juliane (12) kam durch dies Konzert zum Chor: „Die Aufführung hat so viel Spaß gemacht, dass ich unbedingt auch in den Chor wollte.“ Erfolg, auch auswärts, spornt an. Justus (11): „ Wir haben schon im Ratzeburger Dom gesungen!“; Dorothee (12) hat der Weihnachtsauftritt im vollbesetzten Hamburger Michel besonders beeindruckt.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht neben der Stimmbildung das Ziel „Mehrstimmigkeit“. Und natürlich die saubere Intonation, das genaueste Treffen der Töne. Bei den meisten ist das durch das in dem Alter schon jahrelange Singen bereits in Fleisch und Blut (oder auch Lunge und Lippen) übergegangen.

Begeisterungsstürme sind in dem Alter, in dem die Kurrende-Jugendlichen sind, eher selten. Musicals, ja, die sind schon ok... Da wird auch das eine oder andere anstrengende Konzert in Kauf genommen, für das man so gar nicht angesagte Musik oft und intensiv proben muss. Dass diese Musik (das letzte Konzertprogramm bestand u.a. aus dreistimmigen Mendelssohn-Motetten) dann, jedenfalls für die Jugendlichen selber und insgeheim, doch zumindest etwas angesagter wird, freut mich besonders. Schöne Melodien gibt es eben in jeder Musikrichtung. Popmusik, der Soundtrack von Harry Potter und beim Chor Bach und Telemann – na klar, warum nicht? Das Leben ist bunt, Musik allemal.

Im Alltag der Kurrende-Jugendlichen spielt jetzt die Schule eine immer größere Rolle. Kann ich wirklich auf Chorfreizeit mitfahren? Oder liegen in der nächsten Woche wichtige Tests? Ein Referat steht an? Da muss Chor für mich heute leider ausfallen. - Umso größer ist meine Dankbarkeit für jedes Kurrende-Mitglied, das trotz dichtem Terminkalender weiter dabei bleibt, dran bleibt. Ein Schatz fürs Leben ist ihm sicher.